Diese Kunst verleiht Flügel
Tiere, Spielzeug, Sensationen: Bei Johann König in Berlin lebt die Kuratorin Ydessa Hendeles ihren Hang zum Gesamtkunstwerk aus – und schafft so die wohl bizarrste und beste Galerieausstellung des Sommers.
Die Madonna von Marburg heißt Elisabeth und nicht Maria. Im frühen 13. jahrhundert prägte die thüringische Landgräfin die Stadt mit ihrer Frömmigkeit und karitativen Aufopferung. Sie kehrte dem Hofleben den Rücken, gründete ein Hospital und widmete ihr kurzes Leben der Pflege der Kranken und Bedürftigen. Bald heilig gesprochen wurde sie Namensgeberin einer der ersten rein gotischen Kirchen auf deutschem Boden. Um ihre Mildtätigkeit rankt sich eine Vielzahl von Legenden. Auch für Ydessa Hendeles’ Werk „Marburg Madonna“ bildet die Figur der Elisabeth einen narrativen Kristallisationspunkt. In einer elliptischen Vitrine hat sie aus alten Gliederpuppen, einer französischen Art-Déco-Lampe und dem argentinischen Modell eines gynäkologischen Stuhls eine Untersuchungssituation installiert, die das Hoffen und Beten beim Arztbesuch heraufbeschwören. Abgeschlossen wie in einer gläsernen Fruchtblase reflektiert das Werk aber vor allem ihr Interesse, historische Bildzitate zu neuen Kontexten zu verknüpfen und darüber von der Ausstellungsmacherin zur Künstlerin zu reifen.
In der Galerie Johann König in Berlin kombiniert Ydessa Hendeles handwerkliche Artefakte, eigene Fotografien und Drucke sowie aufwändig präsentierte Installationen. Sie tritt wie gewohnt als Kuratorin und Kulturhistorikerin auf, als Sammlerin, Publizistin und Erzählerin – aber jetzt auch als Künstlerin. Alles simultan. „Marburg Madonna“ manifestiert den Beginn dieser Rollenverschiebung. Mit ihrer ersten Soloshow in einer kommerziellen Galerie formuliert Hendeles eine Art Gesamtkunstwerk, weil sie den Schritt über die Grenze der Konzeption von Ausstellungen hin zur Selbstvergewisserung als Produzentin wagt. Und dabei doch alle Fäden in der Hand behält.
Ydessa Hendels ist alles simultan: Künstlerin, Kuratorin und Kulturhistorikerin, Sammlerin, Publizistin und Erzählerin.
Dem Hang zum Gesamtkunstwerk gab der berühmte Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann schon 1983 in seiner gleichnamigen Schau im Kunsthaus Zürich nach. Mit der Strategie, Kunstwerke klassischer Gattungen, aber auch im herkömmlichen Sinne kunstfernere Objekte in einen übergreifenden Kontext zu setzen, hat er das heute omnipräsente Berufsbild des Kurators definiert und Heerscharen von Aspiranten auf seine Spur gelockt. Kuratoren erliegen seitdem allerdings häufig dem Hang, nicht nur sich selbst als Teil eines Gesamtkunstwerks zu begreifen, sondern ihr Konzept mit Kunst nur zu illustrieren, was weder der Ausstellung gut tut, noch den präsentierten Künstlern.
Hendeles hat ihre künstlerische Herangehensweise sozusagen über den Umweg von 25 Jahren kuratorischer Praxis entwickelt. Das Illustrationsdilemma umschifft sie, indem sie auf Stücke aus ihrer umfangreichen Sammlung von Kunstgegenständen und kulturellen Objekten zurückgreift, ihnen den persönlichen Stempel aufdrückt und sie assoziativ zu einer großen Ausstellungserzählung verdichtet, statt bloß Thesen zu bebildern. Den Besuchern gibt sie damit den Raum, die verschiedenen Erzählstränge selbst zu entdecken und zu verknüpfen. Erst bei mangelndem detektivischen Enthusiasmus hilft ein bis auf die zweite Stelle nach dem Komma detailliert ausgeführter Katalog weiter, den Hendeles mit überexakten Werkmaßen und Installationsbeschreibungen, historischen Erklärungen und eigenen Kommentaren zu ihrer Ausstellung „The Bird that Made the Breeze to Blow“ beiseite stellt.
Tiere stehen seit einiger Zeit hoch im Kurs der Gegenwartskunst und sind ja auch zur aktuellen Documenta in Kassel ausdrücklich eingeladen, an der Kunstbetrachtung teilzunehmen. In Hendeles’ Ausstellung markieren sie nun die Schnittmengen der verschiedenen Exponate und Erzählungsfragmente: Katzen und Mäuse, Hähne und Albatrosse, Elefanten und Bulldoggen. Ins Auge fällt allerdings zuerst die auf den Maßstab 15:1 aufgemotzte Replik eines Automobils in einer prächtigen Mahagonivitrine (320.000 US-Dollar). „Aero-Car N°500“ zitiert ein Aufziehspielzeug der fränkischen Spielzeugfabrik Blomer & Schüler. Sein Vorbild repräsentierte die Utopie, Fahren und Fliegen in einem Fortbewegungsmittel zu vereinen. Ein Stromlinientraum, der im Deutschland der 30er-Jahre auch Adolf Hitler und Ferdinand Porsche begeisterte. Auf einen geheimen Knopfdruck hin fährt er plötzlich Flügel aus. Dem Kühler entschraubt sich ein Propeller, als könne er das futuristische Vehikel von der Straße in die Luft treiben. Und doch verharrt es wie aufgebahrt in seinem Schneewittchensarg. Was das alles mit Tieren zu tun hat? An zwei Stellen verweist der Automat ins Tierreich. Die ausgefahrenen Tragflächen bemessen mit 322 Zentimetern die durchschnittliche Flügelspannweite des Wanderalbatros, und auf dem Schlüssel des Aero-Car prangt das Logo des Spielwarenherstellers: ein Elefant. Sein Artgenosse „Jumbo“ wird dann einen Raum weiter zum künstlerischen Diskursobjekt. So setzt sich Hendeles’ versponnene Kommunikationslogik munter in Gang, als hätte sie das imaginäre Federwerk einer Assoziationsautomatik aufgezogen.
Hendeles offenbart ihr Faible für metaphorisches Blechspielzeug und Kunsthandwerk schon im Eingangsbereich. Die Fotoserie „Partners“ zeigt eine Aufziehfigur von Minnie Mouse, die ihren Vorgänger Felix the Cat als erfolgreiches Comicwesen symbolisch in den Koffer packt. „Das Spielzeug ist eine Ermächtigungsfantasie“, erklärt Hendeles im Katalog, „welche die rücksichtslose Natur von Machtstrukturen verspottet, weil sie ein Szenario kreiert, in dem eine Maus mal eine Katze zur Beute machen kann.“ Im nächsten Raum befinden sich in formal ähnlicher Reihung Aufnahmen eines Arts-and-Crafts-Keramikbechers, auf dem über zwei rivalisierenden Gockeln die Aufschrift „The Early Bird“ mahnt. Ein stolzer Hahn findet sich auch wieder als Signet auf einer übergroßen Fahrradklingel, die ihrerseits in Verbindung zu der Fotografie eines radelnden Mädchens zu stehen scheint (30.000 – 50.000 US-Dollar).
Die Geschichtenerzählerin Hendels fliegt mit dem Albatros.
Das Mädchen ist Ydessa Hendeles, kurz nach ihrer Emigration aus Deutschland nach Kanada. 1948 wurde sie in Marburg in eine jüdische Familie geboren, ihre Eltern hatten das Konzentrationslager von Auschwitz überlebt. Vor diesem Hintergrund bekommt die Installation eines Fotos und einer kleinen Spieldose mit einem zwischen Bildern von Nürnberg im Kreis fahrenden Zug sofort eine andere Konnotation, zumal auf dem Boden des Propagandaspielzeugs noch an die Stadt der Reichsparteitage erinnert wird.
Hendeles versteht sich als Geschichtenerzählerin. Ihre Geschichten erzählt sie aber nicht chronologisch, sondern serviert sie in mal konkreten, mal rätselhaften Häppchen, die sich mit der Zeit zu einem komplexen Narrationsgeflecht mit wiederkehrenden Knotenpunkten zusammensetzen. So prangt der Gockel auch auf dem Firmenlogo der Papiermanufaktur Hahnemühle, auf denen die Serie „The Bird that Made the Breeze to Blow“ gedruckt ist (90.000 US-Dollar). Ikonografisch spielt dagegen der Albatros die tragende Rolle. Hendeles hat hier Holzstiche von Gustave Doré aus ihrer Sammlung zum Gegenstand einer Appropriationsserie gemacht. Elf der 1876 erstmals im Jumbo-Format veröffentlichten Illustrationen zu Samuel Taylor Coleridges „Ballade vom alten Seemann“ vergrößerte Hendeles noch weiter, rahmt sie schwarz, verändert die Reihenfolge und stanzt ihr eigenes Label auf jedes Blatt. Ihren künstlerischen Eingriff in das vorhandene Material versteht sie als performative Interpretation, so wie auch Opernsänger einer Komposition ihre individuelle Stimme verleihen. Die Moritat über einen Matrosen, der ohne Not einen Albatros erschießt und dann zum Einsatz in einem Spiel um Leben und Tod wird, gehört zum kollektiven Literaturgedächtnis der anglophonen Welt; ihre Verse wurden zu geflügelten Worten der englischen Sprache. Hendeles spielt nun mit dem Verhältnis von Bild und Textwissen ihrer Rezipienten, in der Gewissheit, dass sich wieder neue Gedankensprünge ergeben werden – innerhalb einer Arbeit, aber auch im Gesamtkunstwerk ihrer Ausstellung.
Für Johann König mag diese für sein Programm ungewöhnlich narrative Ausstellung auch schon ein Test für die neuen Galerieräume sein, die er im nächsten Jahr in einer Kirche aus den 60er-Jahren beziehen will. Sie fordert nämlich geradezu nach künstlerischer Entgrenzung, die ihrer sprechenden Architektur Paroli bieten kann.
Ydessa Hendeles, „The Bird that Made the Breeze to Blow“, Galerie Johann König, Berlin, noch bis zum 7. Juli 2012