Marcus Woeller
Kunsthistoriker & Journalist
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    Neue Skulptur bei den St. Moritz Arts Masters

    Neue Skulptur bei den St. Moritz Arts Masters

    2. September 2011
    Author: marcus
    Category: Kunst
    Tags: George Condo, Humpty Dumpty, John Armleder, Jonathan Meese, Kunst, Roman Signer, Schweiz, Skulptur, St. Moritz, St. Moritz Arts Masters

    Signifikante Skulpturen

    Bei den diesjährigen St. Moritz Art Masters interpretieren zeitgenössische Künstler die Formsprache der Skulptur neu und bringen sie in den öffentlichen Raum.

    Was ist der Sinn von Wörtern und Phrasen? Wo liegt die Bedeutung von Signifikanten und Symbolen? Während die Sprachwissenschaft die Zeichenflut in Systeme einordnen will, macht es die Kunst mit viel Spaß an der Destruktion lieber umgekehrt. An vorderster Front kämpft Jonathan Meese und umarmt den Schwall frei flottierender Zeichen mit dem Charme einer nur der eigenen Logik gehorchenden Semantik. Vor mehr als zehn Jahren debütierte der Künstler mit einer überbordenden Rauminstallation irgendwo zwischen kulturhistorischem Archiv und explodiertem Jugendzimmer. Radikal in der Form, zutiefst albern, aber auch subtil scharfsinnig ließ er den Symbolen seiner popkulturellen Sozialisation ihren Lauf. Inzwischen ist Meese ruhiger geworden und hat sich der Bildhauerei zugewandt – die Zeichen der Zeit lässt er weiter fliegen: zum Beispiel an Bord seiner Humpty-Dumpty-Maschine der totalen Zukunft. Im altehrwürdigen Kolonnadenhof der Alten Nationalgalerie in Berlin ist Humpty Dumpty, der Eierkopf aus einem englischen Kinderreim, schon vor einem halben Jahr gestartet. Nun zieht die Bronzeskulptur auch im Engadin ihre Kreise: „ohne Rückspiegel, ohne Rehling und ohne Nostalgie nur nach vorne, toll, toll, toll“, wie Meese in seiner unnachahmlichen Ausdrucksweise erläutert.

    Zum vierten Mal verwandeln die St. Moritz Art Masters den Ort in der Südostschweiz in einen Parcours der Bildenden Kunst. Interessant in diesem Jahr sind besonders die Positionen zeitgenössischer Skulptur. Die klassische Gattung hat nach länger währendem Tiefschlaf in den vergangenen Jahren einen Aufwind erlebt und wurde auf den internationalen Kunstmessen wieder vermehrt präsentiert. Die Künstler wollen dem Skulpturbegriff sein altes Selbstbewusstsein zurückgeben, statt die solitäre Plastik in Installation und Umgebung aufgehen zu lassen.

    Jonathan Meese trifft Humpty Dumpty – ein schönes zwingendes Argument

    Vor der Alten Nationalgalerie musste sich Meeses Trash-Raumschiff gegen Klassiker der Berliner Bildhauerschule wie Reinhold Begas behaupten, in St. Moritz wurde die Skulptur konfrontativ vor der mondänen Jahrhundertwendepracht des Badrutts Palace Hotel platziert. Für Meese nahezu der perfekte Ort, schließlich diskutierte Humpty Dumpty schon mit Alice in Lewis Carrolls Hinter den Spiegeln über Sinn und Wirkung der Wörter – und Ruhm und Herrlichkeit bedeuten ihm da wenig:
    „[…] Ich weiß nicht, was du mit ‚Herrlichkeit’ meinst“, sagte Alice. Humpty Dumpty lächelte verächtlich. „Natürlich nicht – bis ich es dir sage. Ich meinte: Da hast du ein ‚schönes zwingendes Argument‘!“ „Aber ‚Herrlichkeit’ heißt doch nicht ‚schönes zwingendes Argument‘“, entgegnete Alice. „Wenn ich ein Wort verwende“, erwiderte Humpty Dumpty ziemlich geringschätzig, „dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes.“ „Die Frage ist doch“, sagte Alice, „ob du den Worten einfach so viele verschiedene Bedeutungen geben kannst.“ „Die Frage ist“, sagte Humpty Dumpty, „wer die Macht hat – und das ist alles […].“
    Ein Dialog, den auch Meese seine Werke ständig miteinander führen lässt.

    Raffinesse und Poesie – Roman Signer

    Roman Signer verbindet mit Meese sowohl diese destruktive Lust als auch die humoristische Perspektive auf den Alltag. Die Aktionen des Schweizer Künstlers basieren gewöhnlich auf einer simplen Grundidee und der Unkontrollierbarkeit des Zufalls, etwa wenn er unvermittelt und mit viel Getöse Dinge in die Luft jagt. Seine neue Skulptur Wasserspiel ist dagegen von beinah asiatisch anmutender Raffinesse und Poesie: In eine begehbare Blechinstallation ist an der Rückseite ein Fenster geschnitten, vor dem unaufhörlich ein Vorhang aus Wasser vorbeifließt. Während der Betrachter durch diesen Schleier schaut, inszeniert Signer nicht nur die ästhetische Qualität des Urelements, sondern auch die Wahrnehmung der Betrachter. Indem er einen Rahmen schafft, nutzt er das alte Prinzip der Bilderzeugung auf neue Weise.

    Wider die rechtwinklige Ernsthaftigkeit – George Condo

    Mit Rahmen aus denen grotesk figurative Malerei herausgrinst, wurde George Condo zu einem der bekanntesten Künstler der Gegenwart, doch in St. Moritz kichert der exaltierte Witz seiner Gemälde aus Skulpturen.Extended Forms klingt zunächst nach der rechtwinkligen Ernsthaftigkeit derMinimal Art, die die Grenzen zwischen Kunst und Design, Objekt und Mobiliar bis zur Ununterscheidbarkeit abgeschliffen hat. Doch Condos Plastiken reiben sich am starren Formdiktat des Minimalismus, wenn gleich sie dessen Vokabular zitieren: glatte Flächen, abstrakte Formen, klare Farben. Doch im Hintergrund lauert schon die Narration. Gil Evans, eine knallrote Metallskulptur, changiert zwischen amorphem Formexperiment und abstraktem Gruppenbildnis. Ein weißes, retro-futuristisches Objekt, das ungelenk auf zwei ovalen Scheiben balanciert, scheint abheben zu wollen, sobald man den Titel kennt: Space Ship. Auch Condo macht mit seinen Skulpturen deutlich, wie sehr Bezeichnungen unsere Sicht auf die Dinge konditionieren. Eine abstrakte, geometrische Skulptur wird plötzlich menschlich und eröffnet einen breiten Assoziationskontext – nur weil sie One Armed Bandit heißt. In der Fußgängerzone aufgestellt, dehnen die drei großformatigen Plastiken nun ihre Kommunikation untereinander auf die Passanten aus.

    Bis an die Grenzen des Wahrnehmungsvermögens – John Armleder

    Zwischen Minimal Art und Pop Art bewegt sich auch John Armleder. Die Leuchtstoffröhren, die er für seine Kunst verwendet, traten ihren Siegeszug in den USA einst als industrielles Material an, um die großen Fertigungshallen mit einem künstlichen Tageslichtersatz auszustatten. In den 1960er Jahren entdeckten Künstler wie Dan Flavin oder James Turrell das Neonlicht, um mit unserer Wahrnehmung zu spielen. Armleder präsentiert in St. Moritz nun vier monumentale Neonskulpturen aus der Werkreihe Voltes. Horizontale und vertikale Streifen aus Leuchtstoffröhren gehen an und aus, fangen an zu flackern, irritieren das Auge des Betrachters. Konzentrische Kreise aus runden, farbigen Neonröhren locken wie Zielscheiben, aber auch sie werden in einer kontinuierlichen Sequenz an- und ausgeschaltet. So stellt er auf die Probe, was unser Auge will – und was es kann. Zweidimensionalität und Dreidimensionalität, Flachware und räumliches Bild werden plötzlich austauschbar. Mit einfachsten Mittel führt Armleder das menschliche Wahrnehmungsvermögen an seine Grenzen und schwingt sich auf zum Dompteur unseres Sehsinns.

    Mit dem Art Walk der diesjährigen St. Moritz Art Masters ist es dem Kurator Reiner Opoku gelungenen, einen eigenwilligen Blick auf die zeitgenössische Kunst zu lenken. Sein Motto Lingua Franca ist typisch schweizerisch, beschreibt aber auch ein universelles Phänomen der Kunst. In der Eidgenossenschaft mit ihren vier Amtssprachen und den vielen Dialekten ist man es gewohnt, dass der sprachliche Austausch an Grenzen gerät, dass symbolische Barrikaden eingerissen werden müssen und die Zeichen immer wieder falsch gedeutet werden. Eine Lingua Franca einzurichten, also eine universell verständliche Verkehrssprache, ist praktikable Notwendigkeit und theoretische Unmöglichkeit gleichermaßen. Jonathan Meese scheint wie viele andere Künstler und Künstlerinnen nicht an die eine Sprache zu glauben, dafür aber an die übergeordnete Verständlichkeit von Zeichen und kulturellen Symbolen, über alle Schranken hinweg.

    St. Moritz Art Masters, noch bis zum 4. September 2011, St. Moritz und an verschiedenen Orten und Galerien im Engadin, Schweiz

    (mb! Magazin)

     

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    Marcus Woeller

    Ich lebe in Berlin und arbeite als freier Journalist und Redakteur. Meine Reportagen, Berichte und Kritiken über Kunst und Architektur, Mode und Design, Räume und Orte, Essen und Trinken habe ich in der tageszeitung, der Welt und der Welt am Sonntag, der Frankfurter Rundschau, dem Tages-Anzeiger Zürich, der Berliner Morgenpost, bei artnet und anderen Onlinemedien veröffentlicht Als Kulturredakteur und Textchef gab ich dem Magazin Style and the Family Tunes Inhalt und Schliff. Ich habe als Videoredakteur gearbeitet und das Projektmanagement für verschiedene Corporate-Publishing-Formate geleitet.

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