Wie man sich verliert
Mit seiner Videokunst ist der Kanadier Jeremy Shaw zum Liebling der Kuratoren geworden. Im Berliner Schinkel Pavillon huldigt er jetzt mit einem neuen Film dem Underground-Phänomen Voguing.
Für den temporären Ausbruch aus realen Zwängen hatte Madonna schon immer Ratschläge parat: „You try everything you can to escape the pain of life,“ sang sie 1990 und empfahl, „I know a place where you can get away: It’s called a dance floor.“ Mit dieser Weisheit wurde die Hit-Single „Vogue“ einer ihrer größten Erfolge.
Dem Performancestil des New Yorker Undergrounds, an deren expressiver Gestik sie sich bedient und aus der sie Madonna auch die Tänzer für ihr Video rekrutiert hatte, wurde allerdings nur kurze Aufmerksamkeit beschert. Die Voguing-Szene blieb bis heute eine verschworene Subkultur. Daran konnte weder der im selben Jahr veröffentlichte Dokumentarfilm „Paris Is Burning“ etwas ändern, noch Malcolm McLarens Clip „Deep in Vogue“ aus dem Jahr 1989. Der Tanz entwickelte sich zwar in den letzten zwanzig Jahren weiter, integrierte viele Einflüsse aus Hip-Hop oder Breakdance und wurde zuletzt von Pop-Sängerinnen wie Beyonce oder Lady Gaga vereinnahmt, hat aber dennoch kaum die Harlemer Ballhäuser verlassen, in denen sich Schwarze und Latinos, Schwule und Drags zu ihren Wettbewerben treffen.
Jeremy Shaw holt den Voguing-Tanz aus den Harlemer Ballhouses in den Berliner Schinkel Pavillon.
Auch der aus Vancouver stammende, aber seit fünf Jahren in Berlin lebende Künstler Jeremy Shaw will die Szene nicht an die Öffentlichkeit zerren, wenn er die Vogue-Tänzerin Leyomi Mizrahi zum Thema seines neuen Films „Variation FQ“ macht, den er nun im Berliner Schinkel Pavillon präsentiert. Shaw beschäftigt der Eskapismus, den auch Madonna anspricht, die Möglichkeit sich über den Tanz vom bedrückenden Alltag zu befreien. „Mein Thema ist diese ewige Suche danach, den Verstand zu verlieren.“
Die blauen Augen des Mittdreißigers funkeln fröhlich, denn er meint es absolut positiv. „Es ist diese Art, wie Leyomi tanzt. Sie ist wirklich nicht mehr bei Sinnen, und es gelingt ihr, der Gegenwart zu entfliehen.“, erklärt er. „Ich versuche diese erlösenden Momente zu illustrieren und visuell auszugestalten.“ Leyomi, die ihre Nachnamen ändert, je nachdem welchem Ballhouse sie gerade angehört, kam als transsexueller Mann zur Welt. Als Frau ist zu einem umschwärmten Voguing-Star geworden, der die Battles mit aggressiver Leidenschaft beherrscht. Sie wirft die Haare und schleudert ihren Kopf hin und her, dass es einem vom Zusehen in der Nackenmuskulatur zieht. Mit stumpfem Headbanging hat Leyomis Stil aber nichts gemein. In ihren Choreografien verausgabt sie sich total, lässt sich hintenüber fallen, springt aus der Rückenlage wieder in den Stand, stampft in der Hocke über den Boden, zieht sich am eigenen Zopf wieder empor, rudert mit den Armen, wird ganz energetisches Zeichen aus Kopf, Körper und Gliedmaßen.
Ich versuche erlösende Momente zu illustrieren und visuell auszugestalten. — Jeremy Shaw
Dieses Zeichen hat Shaw zu einem hinreißend eleganten Film animiert, der weder nüchterne Dokumentation noch die bloße Hommage eines Fans ist, sondern die Elemente des Tanzes und die Passion der Tänzerin auf eine neue visuelle Ebene überführt. Inspiriert hat Shaw der berühmte Ballettfilm „Pas de deux“ des kanadischen Filmemachers Norman McLaren. Wie in diesem Vorbild von 1967 wird die Tänzerin im weißen Kostüm vor schwarzem Hintergrund so ausgeleuchtet, dass sie wie eine reduzierte Silhouette erscheint, die mittels Überblendungen und Stop-Motion-Technik beinahe abstrakt in Szene gesetzt wird. Auch der Soundtrack – Shaw hatte selbst lange eine Band und gab der bildenden Kunst erst vor einigen Jahren den Vorzug vor der Musik – vermischt die konträren Ebenen von bildungsbürgerlichem Ballett und der Rotzigkeit der Untergrundclubs. Zwischen die klassischen Klänge des Klaviers hat er immer wieder Passagen aus einem R’n’B-Track von Willow Smith gemixt.
Shaws Arbeiten offenbaren eine große Liebe zu seinen Protagonisten. Er erscheint als Teil der jeweiligen Subkultur, mit der er sich befasst, schafft es in seinen Filmen dann aber, sich künstlerisch zu distanzieren. Etwa wenn er für „Best Minds Part One“ von 2007 die martialischen Tänze von Straight-Edge-Kids in Zeitlupe filmt und den die Bewegung bestimmenden Hardcore-Punk durch einen leise dahinplätschernden Elektrogroove ersetzt. „Es ist genauso wie beim Voguing. Ich liebe es, ihnen beim Tanzen zuzuschauen. Beides entstammt aus eher ärmlichen Verhältnissen, und ich füge vermeintlich hochkulturelle Elemente hinzu. Das macht es cool. Und wirklich schön.“
Jeremy Shaw interessiert sich für die Subkulturen, will aber auch einem Mainstream-Publikum Zugang zu seiner Kunst ermöglichen.
Manches gerät ihm fast zu schön. „Ich schätze einen guten Look.“, sagt Shaw. „Mit meinen Arbeiten will ich die Leute anziehen. Ich habe nichts gegen Hässlichkeit, bloß wenn man konfrontativ arbeitet, verliert man 80 Prozent seines Publikums. Wenn es aber glitzert, dann ködert man die Leute – und damit will ich spielen.“ Er schreckt also auch nicht vor spektral schillernden Aura-Fotografien zurück oder vor im Schwarzlicht fluoreszierenden Neonfarben, die an die Dekoration eines Headshops erinnern. „Meine Arbeit hat den Anspruch, in einem Pop-Kontext konsumiert zu werden. Ich hatte immer die Sehnsucht, auch einem Mainstream-Publikum Zugang zu meiner Arbeit zu gewähren.“, erklärt Shaw seinen Populismus der Form. „Und das funktioniert am besten, wenn es hübsch aussieht, hypnotisch ist oder verführerisch.“ Dass er einige Betrachter verliert, die sich von ihm abwenden könnten, eben weil die Fassade zu sehr strahlt, nimmt Shaw in Kauf. „Ich hoffe aber, dass jene Leute, die sich haben ködern lassen, die Angebote wahrnehmen, die ich unterhalb dieser Oberfläche mache und sich zu eigenen Fragen oder Ideen anstiften lassen.“
Shaw ist gleichermaßen Verführer wie Verführter. Für ein dokumentarisches Filmprojekt experimentierte er 2004 mit der bewusstseinserweiternden Droge DMT, die von einer australischen Kröte abgesondert wird. Er lud Freunde ein, die Substanz, die einen für eine knappe Viertelstunde auf einen psychedelischen Trip schickt, vor der Kamera zu testen. Mit ihren später geschilderten Eindrücken untertitelte er die Videosequenzen. Die Zuschauer versetzt er so in die Situation des Voyeurs, der während er die enthemmten und entgrenzten Gesichter studiert, versucht ihre Erfahrungen nachzuvollziehen und sich je nach eigener Neigung wünscht oder versagt, von dieser süßen Verlockung auch einmal kosten zu wollen.
Mein Thema ist die Suche danach, den Verstand zu verlieren. — Jeremy Shaw
Wen Musik-, Tanz- und Drogenrausch faszinieren, der kann auch von der Beeinflussungsmacht der Religion nicht lassen. Gerade der amerikanische Evangelikalismus verspricht mit seinen Erweckungserlebnissen und Massenkonversionen da besondere Verheißungen. Shaw arbeitet gerade an einem neuen Projekt, das sich mit dem „Snake Handling“ beschäftigt. Bei dem Ritual berühren die Anhänger einiger Pfingstkirchen gefährliche Giftschlangen, um unter dem Risiko sich einen tödlichen Biss einzuhandeln, den eigenen Glauben unter Beweis zu stellen.
Im Frühjahr 2014 soll dieses Werk in der Galerie Johann König in Berlin präsentiert werden, die den Künstler gerade unter Vertrag genommen hat. König wurde durch die Installationen aufmerksam, die Shaw im KW Institute for Contemporary Art zeigte. Bei der eher schwachen Ausstellung „Based in Berlin“ stach die Doppelprojektion des Straight-Edge-Films heraus, in der Show „One-on-One“ überzeugte ihn die immersive Installation einer an Scientology-Lehren erinnernden Video-Gehirnwäsche mit dem Titel „Introduction to The Memory Personality“.
Auch Rauscherfahrung und Raserei erfordern eine souveräne Haltung.
Wenn die räumliche Situation stimme, könne sich auch sonst kommerziell eher heikle Medienkunst verkaufen. Außerdem habe Shaw, der in König einen vertrauten partner in crime erkennt, der seine künstlerischen Visionen unterstützen will, auch bei Privatsammlern schon Eindruck gemacht. Julia Stoschek oder Bob Rennie hätten bereits Werke erworben und institutionelle Sammlungen wie das Stedelijk Museum Amsterdam oder das Museum of Modern Art in New York seien ebenfalls interessiert, berichtet der Galerist.
Jeremy Shaws grenzüberschreitende Suche nach Erlösung und Transzendenz berühren jedenfalls menschliche Grundbedürfnisse, ob sie sich nun in Subkulturen, in der Rauscherfahrung oder in religiöser Raserei äußern. Seine ästhetische Position dazu macht eines deutlich – um in Grenzbereiche vorzudringen, erfordert es eine souveräne Haltung. Und in dieser Hinsicht hatte Madonna allemal Recht: „Strike a pose!“
Jeremy Shaw, „Variation FQ“, Schinkel Pavillon, Berlin, 23. Juni – 21. Juli 2013 (Foto: Jeremy Shaw, “Variation FQ”)