Marcus Woeller
Kunsthistoriker & Journalist
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    "Il Palazzo Enciclopedico", 55. Internationale Kunstausstellung, Biennale von Venedig

    “Il Palazzo Enciclopedico”, 55. Internationale Kunstausstellung, Biennale von Venedig

    5. Juli 2013
    Author: marcus
    Category: Kunst
    Tags: Aleister Crowley, Biennale, Biennale di Venezia, Biennale von Venedig, Fischli/Weiss, Frédéric Bruly Bouabré, Friedrich Schröder-Sonnenstern, Hans Bellmer, Harald Thys, Il Palazzo Enciclopedico, Jos de Gruyter, Kunst, Levi Fisher Ames, Lynette Yiadom-Boakye, Maria Lassnig, Massimiliano Gioni, Outsider, Peter Fritz, Ragnar Kjartansson, Robert Crump, Rudolf Steiner, Shinichi Sawada, Shinro Ohtake, Tino Sehgal, Venedig, Walter de Maria, Yüksel Arslan

    Encyclopaedia gionica veneziana

    Die 55. Internationale Kunstausstellung in Venedig stellt die Outsider in die erste Reihe. Ob das Kunst ist, darüber wird gestritten. Sehenswert ist die Biennale 2013 von Massimilian Gioni allemal!

    An dieser Biennale scheiden sich die Geister. Auf der einen Seite stehen Kritiker, welche die 55. Internationale Kunstausstellung von Venedig konservativ finden, zu sehr der akademischen Rückschau verpflichtet, statt dem nötigen Anspruch, die neueste Kunst zu präsentieren. Andere Stimmen sehen die Schau positiv, weil sie die Außenseiter ins Zentrum rückt und sich der Allmacht des Kunstmarkts widersetzt.

    Beides stimmt! Und trotzdem ist Massimiliano Gionis erste Biennale gelungen. Der Blick zurück und neben die Hauptschauplätze der zeitgenössischen Kunst ist dringend nötig, um die Aufmerksamkeit auf die aktuelle Produktion wieder zu schärfen und zu lernen, dass Kunst nicht in erster Linie für einen Markt produziert wird, sondern um entscheidendere Angelegenheiten auszudrücken. Dass dabei viel Innerliches, manch Exotistisches, einiges Esoterische und ungeheure Mengen an Material zusammenkommt, ist ein Gewinn. Nicht nur in enzyklopädischer Hinsicht.

    Massimiliano kuratiert den “Palazzo Enciclopedico” auf der Biennale von Venedig.

    Gionis Inspiration für seine Biennale war „Der Enzyklopädische Palast“, seines von Italien in die USA ausgewanderten Landsmanns Marino Auriti. Im Eingang zum Arsenale, wo der erste Teil der Ausstellung gezeigt wird, steht das monumentale Modell eines sich babylonisch nach oben verjüngenden Turms, in dem alles Wissen dieser Welt seinen Platz finden sollte. Der Autodidakt hatte das Architekturmodell in seiner Garage angefertigt und 1955 zum Patent angemeldet. Wirklichkeit wurde die grenzenlose Utopie jedoch nie. Erst in Gionis Ausstellung beginnt die Idee nun Formen anzunehmen.

    Vielerorts surrealistische. Der türkische Künstlerliterat Yüksel Arslan gehörte etwa zum Kreis um André Breton in den 1960er Jahren in Paris. Sein Universalismus kulminiert in sogenannten „Artures“, komplexen Comic-Palimpsesten aus Texten, Bildern und wissenschaftlichen Verweisen. Eine ähnliche, wenn auch viel drastischere Bildsprache bemüht auch Evgenij Kozlov mit seinem „Leningrad Album“ oder die umfangreiche Graphic Novel „The Book of Genesis“ von Robert Crump. Seine schrille Interpretation des 1. Buch Mose verdichtet geschriebenes Wort und gezeichnetes Bild auf eine Ebene, die der vergleichsweise reduzierten Information biblischen Ursprungs die Überfülle kreativer Exegese gegenüberstellt.

    Tino Sehgal trifft auf Rudolf Steiner.

    Rudolf Steiners Philosophie mag nicht mehr zeitgemäß und vor allem inhaltlich überholt sein. Seine Kreidezeichnungen auf Schiefertafeln von 1923 haben jedoch nichts von ihrer visuellen Verlockung verloren. Sie erscheinen als Bilderrätsel und Erklärungsmodelle gleichermaßen, nehmen eine Ästhetik vorweg, die vor allem Joseph Beuys dann später zu einem Markenzeichen machten. Tino Sehgals Performanden entfalten vor diesen Folien eine verstörende Atmosphäre zwischen eurhythmischer Veranstaltung und Stippvisite in der Nervenklinik.

    Die Materialflut solcher Grenzbereiche zur Esoterik füllen viele Hallen. Paradigmatisch sind etwa Frieda Harris’ Illustration zu einem Tarotkartenblatt, das der britische Okkultist Aleister Crowley 1938 in Auftrag gegeben hat. Sie entwarf eine scheinbar universell gültige Bildsprache des halbseiden Mysteriösen und dekorativ Absurden, das bis heute in der subkulturellen Ästhetik von Heavy-Metal, Emo oder Gothic nachklingt.

    Feuchte und andere Outsider-Träume

    In diesem visuellen Spektrum haben natürlich auch viele der zurzeit so angesagten „Outsider-Künstler“ ihren Auftritt. Etwa die phantastischen Zeichnungen von Friedrich Schröder-Sonnenstern oder virtuos modellierten Plastiken von Monstern und Kultgegenständen des Japaners Shinichi Sawada, der an einer schweren Form von Autismus leidet, die in aber in keinster Weise davon abhält, visuell ungeheuer kraftvolle Skulpturen zu machen. Die mit spitzer Feder gezeichneten, feuchten Träume von Hans Bellmer haben es sogar in den Kanon der Kunst des 20. Jahrhunderts geschafft.

    Enzyklopädischen Anspruch formulieren nicht nur europäische Künstler in Nachfolge von Diderot und der Aufklärung. Gioni macht deutlich, dass die Sammlung zur Akkumulation von Wissen ein kontinentübergreifendes Prinzip ist. Frédéric Bruly Bouabré wurde schon durch die Documenta 11 von Okwui Enwezor einer größeren Öffentlichkeit bekannt. In jahrzehntelanger Arbeit versucht er das „Wissen der Welt“ in postkartengroßen Zeichnungen festzuhalten. Dabei verschränkt er nicht nur subjektive und objektive Weltsicht, sondern bewahrt auch seine aussterbende Muttersprache.

    Sammler und Bastler

    Fantasie und Realität werden deckungsgleich in den Architekturmodellen von Peter Fritz, einem Wiener Versicherungsangestellten, der knapp vierhundert Häuser entwarf, die es nicht gibt, aber so überall geben könnte. Shinro Ohtake aus Tokio sammelt seine Perspektive auf die Wirklichkeit (und alles darüber hinaus) in mittlerweile 66 „Scrapbooks“, die er seit 1977 anfertigt und mit Bildinformation jeglicher Couleur und Herkunft füllt. Andere Protagonisten der Schau sammeln pittoreske Steine, krude Fotografien, peinliche Situation. Manche malen Portraits von Menschen, die nicht existieren, wie die englische Künstlerin Lynette Yiadom-Boakye oder fertigen Skulpturen von Fabelwesen, wie der bereits 1923 verstorbene Levi Fisher Ames aus den USA.

    Der Titel einer Arbeit des Künstlerduos Fischli & Weiss, welche die Ausstellung im zentralen Pavillon in den Giardini beendet, hätte ein alternativer Titel für diese Biennale sein können: „Plötzlich diese Übersicht“ ist eine witzige, anspielungsreiche Ansammlung von Tonfiguren, die die Gegensätze unserer Welt aufs Korn nehmen. Und so wird Gioni in all seiner abseitigen Detailverliebtheit auch immer wieder zeitgenössisch wird und gibt eigenständigen Positionen ihren Raum, etwa der fulminanten Malerei von Maria Lassnig. Die österreichische Künstlerin wurde in diesem Jahr mit dem Ehren-Löwen für das Lebenswerk ausgezeichnet.

    Reizüberflutung gehört zum Prinzip der Ausstellung von Massimiliano Gioni auf der Biennale von Venedig.

    Gegen die überall drohende Reizüberflutung arbeitet der Kurator übrigens mit einem praktikablen Trick: Immer wieder gibt es Räume, Installationen oder Environments, die wie eine visuelle oder kognitive Waschanlage wirken und Hirn und Netzhaut wieder reinigen von zu viel Information. Eine riesige Mehrfach-Projektion saugt einen unwillkürlich in das Trash-Universum des kalifornischen Shooting Stars, nur um kurz darauf wieder vollkommen befreit ausgespuckt zu werden. Eine der wenigen minimalistischen Arbeiten zeigt Walter de Maria, sie liegt am Ende des Ausstellungsteils im Arsenale, gerade so als sollte sie das überreizte Auge beruhigen. Auf die entzündungshemmende Wirkung kathartischen Unsinns setzen dagegen die Belgier Jos de Gruyter & Harald Thys mit ihrem anarchischen Videospaß „Das Loch“.

    Eine der wohl besten und am Ende auch nachhaltigsten Arbeiten liegt aber im Außenbereich, bereitgestellt vom Isländer Ragnar Kjartansson. Auf den Kater nach zuviel Input reagiert er mit „göttlicher Langweile“. Das alte Fischerboot „S.S. Hangover“ wird bis zum Ende der Biennale unaufhörlich im alten Hafenbecken des Arsenale seine Runden drehen. Als Besatzung wurde eine Blaskapelle dazu verdonnert, täglich vier Stunden lang dieselbe Melodie zu spielen.

    „Il Palazzo Enciclopedico“, 55. Internationale Kunstausstellung, Biennale di Venezia, noch bis zum 24. November 2013, Giardini & Arsenale, Venedig (Foto: Fischli/Weiss, “Plötzlich diese Übersicht”, Installationsansicht, Foto: Susanne Röllig)

    (kunst+film)

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    Marcus Woeller

    Ich lebe in Berlin und arbeite als freier Journalist und Redakteur. Meine Reportagen, Berichte und Kritiken über Kunst und Architektur, Mode und Design, Räume und Orte, Essen und Trinken habe ich in der tageszeitung, der Welt und der Welt am Sonntag, der Frankfurter Rundschau, dem Tages-Anzeiger Zürich, der Berliner Morgenpost, bei artnet und anderen Onlinemedien veröffentlicht Als Kulturredakteur und Textchef gab ich dem Magazin Style and the Family Tunes Inhalt und Schliff. Ich habe als Videoredakteur gearbeitet und das Projektmanagement für verschiedene Corporate-Publishing-Formate geleitet.

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