Marcus Woeller
Kunsthistoriker & Journalist
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    "Fragile?" und "Glasstress", zwei Ausstellungen zur zeitgenössischen Glaskunst, Venedig

    “Fragile?” und “Glasstress”, zwei Ausstellungen zur zeitgenössischen Glaskunst, Venedig

    29. Juli 2013
    Author: marcus
    Category: Kunst
    Tags: Biennale di Venezia, Biennale von Venedig, Carsten Nicolai, Fondazione Cini, Gerhard Richter, Glas, Glasstress, Installation, Jannis Kounellis, Joseph Beuys, Joseph Kosuth, Kunsthandwerk, Le Stanze del Vetro, Marcel Duchamp, Mario Codognato, Mario Merz, Mona Hatoum, Monica Bonvicini, Murano, Pipilotti Rist, San Giorgio Maggiore, Shih Chieh Huang, Skulptur, Tracey Emin, Venedig

    Durchsichtig, aber nicht leicht durchschaubar

    Die beiden Ausstellungen “Fragile?” und “Glasstress” sind Collateral Events der Biennale von Venedig und zeigen Glas als Werkstoff der zeitgenössischen Kunst 

    Seit 1965 erklärt uns Joseph Kosuth die Konzeptkunst als Dreifaltigkeit von realem Objekt, der Abbildung des Objekts und der Beschreibung des Objekts. Im Zentrum dieses Beziehungsgeflechts verschiedener Repräsentationsformen eines Dings steht meistens ein Stuhl. Wenn er sein berühmtes Projekt „One and Three“ jedoch mit einer Glasscheibe statt eines Stuhls installiert, kommt noch mindestens eine Ebene hinzu. Denn Glas ist schon aufgrund seiner Materialeigenschaften ein weniger konkretes Ding als ein Möbel. Glas fasziniert mit Transparenz, chemischer Unangreifbarkeit und fast magischer Formbarkeit. Bezahlt werden diese Qualitäten aber mit dem Makel der Zerbrechlichkeit.

    „Fragile?“ nennt sich auch eine Ausstellung in Venedig, die sich dem Glas als Werkstoff in der Gegenwartskunst nähert. Das Fragezeichen im Titel deutet dabei schon an, welcher Materialeigenschaft die Künstler besondere Aufmerksamkeit schenken. Bei Kosuth freilich spielt die Brüchigkeit des Objekts keine Rolle. Eher schon die Fragilität der Darstellung. Durchsichtig wie es ist, widersetzt sich Glas nämlich seiner Repräsentierbarkeit und wird damit zum konzeptuellen sondergleichen.

    Glasbruch und Zerstörung

    Am anderen Ende der künstlerischen Auseinandersetzung mit Glas steht Pipilotti Rist. In ihrem Video „Ever Is Over All“ von 1997 verbindet die Schweizer Künstlerin die pure Lust an der Destruktion mit der Eleganz einer Frau, die tut was sie will. In Slow-Motion läuft sie zum romantischen Soundtrack eine Straße entlang und zerschlägt mit einer Blume, die sie allerdings wie einen Baseballschläger schwingt, die Scheiben der parkenden Autos. Sie erfreut sich an ihrem Zerstörungsrausch, und niemand kann ihr etwas anhaben. Sogar Polizisten nicken ihr freundlich zu, während sie die nächste Karosse demoliert. Auch Monica Bonvicini versteht sich als radikal-feministische Vandalin. 2004 produzierte sie die Edition „VSG“: hundert zersplitterte Scheiben Sicherheitsglas, in das die Bruchkanten ein jeweils individuelles Muster gezeichnet haben. Die Gewalt ihres brutalen Stoßes wird so als feine Ästhetik des Zufalls festgehalten.

    Die gläsernen Trümmer inmitten Joseph Beuys’ Installation „Terremoto in Palazzo“ haben dagegen einen eher historischen Hintergrund. 1980 erschütterte ein Erdbeben die Region Irpinia in Süditalien, bei dem fast 3000 Menschen ums Leben kamen. Der Galerist Lucio Amelio aus Neapel lud daraufhin führende Künstler der Zeit zu Ausstellungen ein, aus denen die Sammlung „Terrae Motus“ hervorging, die im Palazzo Reale in Caserta aufbewahrt wird. Beuys inszenierte die Erfahrung der Fragilität allen Seins als wacklige Installation von Möbelstücken, die auf Glasflaschen balancieren und sich um einen zentralen Scherbenhaufen gruppieren.

    Le Stanze del Vetro etabliert sich als Glasmuseum in Venedig.

    „Fragile?“ manifestiert den Anspruch, Le Stanze del Vetro als institutionelles Glasmuseum in der Fondazione Cini auf San Giorgio Maggiore zu etablieren. Hier soll die Geschichte der venezianischen Glasherstellung wissenschaftlich aufgearbeitet, aber vor allem auch in einen zeitgenössischen Kontext gesetzt werden. Nach der monografischen Retrospektive des Architekten und Glasdesigners Carlo Scarpa im letzten Jahr verlassen Le Stanze del Vetro nun den lokalen Horizont. Denn Muranoglas findet sich in der aktuellen Ausstellung nicht. Stattdessen zeigt sie, wie sich die Künstler das Material während der letzten achtzig Jahre angeeignet haben.

    Eines der einflussreichsten gläsernen Kunstwerke des 20. Jahrhunderts konnte nicht ausgeliehen werden: „Die Braut wird von ihren Junggesellen entkleidet, sogar“ von Marcel Duchamp. Stellvertretend für dieses sogenannte „Große Glas“ – 1915-1923 entstanden, 1927 zerborsten und 1936 vom Künstler so wieder zusammengesetzt, dass die Bruchspuren sichtbar blieben – präsentiert die Ausstellung aber ein nicht minder berühmtes Objekt von Duchamp: „Air de Paris“. 50 Kubikzentimeter Pariser Luft sollen sich in der kleinen Phiole befinden. Überprüfen kann man das freilich nicht. Man müsste das hermetische Glasgefäß schon zerbrechen, doch dann entwiche der flüchtige Inhalt.

    Die von Mario Codognato kuratierte Schau stellt mit den Arbeiten von 28 Künstlern heraus, wie interessant Glas vor allem für konzeptuelle Herangehensweisen an die Kunst ist. Besonders die Arte Povera kam kaum ohne das als industriell und minderwertig angesehen Material aus: Von Mario Merz ist eine Installation aus Erde, Glasplatten und Neonbuchstaben vertreten. Eine frühe Arbeit von Jannis Kounellis kombiniert verstaubte Weinflaschen mit einer korrodierten Eisenplatte. Keith Sonnier führte Glas und Neonlicht in die Minimal Art ein und wird mit einem „Lit Square“ von 1968 repräsentiert, einer sich vor zwei unterschiedlich beschaffenen Glasscheiben schlängelnden Leuchtstoffröhre.

    Für die unmittelbare Gegenwart setzt Gerhard Richter Raum, Objekt und Wahrnehmung der Betrachter in Szene. „6 Panes of Glass in a Rack“ sind nichts weiter als eine Konstruktion von parallel hintereinander gestellten Glasscheiben. Spiegelungen und Transparenzen erzeugen in diesem visuellen Zwischenraum ein Theater von geisterhaften Bildern, denen man kaum habhaft werden kann. Carsten Nicolai arbeitet wie stets auf der Grenze zwischen Kunst und angewandter Wissenschaft. In seinem Werk „Void“ scheint er aber auch Duchamp zu paraphrasieren. In seine chrombeschichteten Röhren will er nämlich statt Luft Geräusche eingeschlossen haben.

    Ausstellung in Kooperation mit einer Glasmanufaktur auf Murano

    Einen weniger historisierenden als pragmatischen Ansatz verfolgt das Projekt „Glasstress“, das sich bereits zum dritten Mal als Nebenschauplatz der Biennale von Venedig präsentiert. In Kooperation mit der Glasmanufaktur Berengo Studio auf der Glasbläserinsel Murano und dem College of Fashion sowie der Wallace Collection in London wurden zeitgenössische Künstler beauftragt, Werke für die Ausstellung „White Light / White Heat“ zu schaffen. Nicht allen gelingt es dabei so gut, die kunsthandwerklichen Techniken mit einem über Materialexperimente hinausgehenden Anspruch in Einklang zu bringen, wie Shih Chieh Huang aus Taiwan. Für seine kinetische Arbeit „Seductive Evolution of Animated Illumination“ kombinierte er computergesteuerte Motoren und Ventilatoren, Plastikfolien und Leuchtdioden mit traditionell produzierten Glaselementen, um seine futuristische Interpretation eines venezianischen Kristalllüsters aus der Renaissance zu kreieren. So absurd mit den Armen rudernd, würde er nicht nur auf einem Karnevalsball eine gute Figur machen.

    Mona Hatoum sperrte für ihre Arbeit „Kapancik“ einen Batzen roter Glasschmelze in einen Käfig aus Bewehrungsstahl. Die beiden industriellen Rohprodukte erlangen in der Installation eine metaphorische Qualität. Wie ein amorphes Lebewesen scheint sich das noch nicht zur Form geblasene Glas aus seinem Gefängnis befreien zu wollen. Tracey Emin nahm den Kunstauftrag eher persönlich und ließ ihre Katze „Docket“ aus schmutzig grauem Mattglas modellieren. Das Haustier sei schließlich ihr engster Begleiter, erklärte die ehemalige Ikone der Young British Artists, die gerade fünfzig geworden ist.

    Auch die venezianische Glaskunst ist in die Jahre gekommen und hat ihre Existenzkrise angesichts in China produzierten Muranokitsches noch längst nicht überwunden. Die Annäherung der wenigen verbliebenen Produzenten an die zeitgenössische Kunst und die gegenseitige Herausforderung durch Ausstellungen wie „Glasstress“ und Institutionen wie Le Stanze del Vetro, könnten aber dazu beitragen, das aussterbende Handwerk mit neuem Selbstbewusstsein und konkreten Zukunftsperspektiven zu beleben.

    55. Internationale Kunstausstellung Biennale di Venezia: „Fragile?“, Le Stanze del Vetro, Fondazione Cini, bis 28. Juli 2013 und „Glasstress: White Light / White Heat“, Palazzo Cavalli Franchetti & Berengo Centre for Contemporary Glass and Art Murano, bis 24. November 2013, Venedig (Foto: Tracey Emin, “Docket”, 2013, Courtesy of Glasstress)

    (Die Welt)

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    Marcus Woeller

    Ich lebe in Berlin und arbeite als freier Journalist und Redakteur. Meine Reportagen, Berichte und Kritiken über Kunst und Architektur, Mode und Design, Räume und Orte, Essen und Trinken habe ich in der tageszeitung, der Welt und der Welt am Sonntag, der Frankfurter Rundschau, dem Tages-Anzeiger Zürich, der Berliner Morgenpost, bei artnet und anderen Onlinemedien veröffentlicht Als Kulturredakteur und Textchef gab ich dem Magazin Style and the Family Tunes Inhalt und Schliff. Ich habe als Videoredakteur gearbeitet und das Projektmanagement für verschiedene Corporate-Publishing-Formate geleitet.

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