Im Inneren sind wir alle rot
Für seine erste große Ausstellung in Berlin schießt Anish Kapoor Glibber an die Wand und öffnet seltsame Körper. Eine Annäherung an den derzeit erfolgreichsten britischen Künstler.
Alle 15 Minuten erschüttert ein Knall den Martin-Gropius-Bau. Schuld daran ist der junge Mann mit der Schutzbrille und den Schallschutzkopfhörern. Er ist dazu abgestellt, eine Druckluftkanone regelmäßig abzufeuern. Und das geht so: Die Tür des Absperrgitters öffnen, eine der Holzpatronen von der Palette nehmen, den darin untergebrachten Öl-Wachs-Vaseline-Pfropfen in den Lauf des Kanonenrohrs stopfen, das hintere Ende hermetisch verriegeln und die Druckluftflasche öffnen, bis es nicht mehr zischt. Dann die Luftzufuhr wieder schließen und warten. Warten, warten, WARTEN – und dabei salzsäulenstarr dastehen. Und wenn sich die gespannte Erwartung zu einem bereits physischen Aufregungsgefühl am Mageneingang der Betrachter angesammelt hat, mit der Geste eines französischen Revolutionshenkers den Hebel nach unten ziehen. Pamm! fliegt das dunkelrote Gallertgeschoss in die Raumecke.
Die spektakuläre Haubitze ist Teil von Anish Kapoors Installation mit dem prosaischen Titel „Shooting into the Corner“ von 2008/09. Der entscheidendere Teil ist allerdings dieses Material, das sie verschießt: ein Gemisch aus dunkelrotem Pigment, Wachs und Ölfarbe, dessen Rezeptur Kapoors Geheimnis ist. Der britische Künstler indischer Herkunft ist ein Materialfetischist. Material bedeutet bei ihm immer auch Farbe und umgekehrt. Und tatsächlich hat dieser Stoff, aus dem er in seiner aktuellen Ausstellung auch Skulpturen geformt hat, eine beeindruckende Präsenz. Die weiche, pastos glänzende Masse ist Kapoors signature material.
Anish Kapoor zeigt seinen Materialfetischismus im Berliner Martin-Gropius-Bau.
In der zentralen Halle des Neorenaissancebaus in Berlin liegt sie in vier großen Flasen auf dem Boden. Über vier Rampen transportiert ein Förderband in enervierender Langsamkeit quaderförmige Brocken des Materials in die Höhe, um sie dann auf den Boden fallen zu lassen, wo sie dann sich zäh ausbreitende Haufen bilden. Ein rotierendes Stahlprofil formt nebenan eine riesige Wachsglocke. An der Wand kleben geometrische Körper. Ein Gabelstapler ist mit der Masse vollkommen zugekleistert. Die Environments sind gleichsam faszinierend, wie pubertär.
Kapoor verwirklicht in seiner Kunst Jungenträume: Glibber gegen die Wand schießen, ungeheure Sauereien veranstalten, zweideutige Spuren von Splatter und Blutorgien hinterlassen. Denn der Künstler verweist mit seinem Material auf den menschlichen Körper, der im Inneren eben auch rot sein. Ein dunkelrotes Geheimnis, in das er, sublimiert über seine eher abstrakten Skulpturen, vorstoßen will, als stochere er in Körperöffnungen. Die Ausstellung präsentiert also zweideutig geschlitzte Steine, Rinnen in denen je nach Fantasie mal Blut oder Lava floss, Kunstharzplastiken von Grotten oder Darmzotten.
Berühmt wurde Anish Kapoor mit einer Installation auf der Documenta in Kassel.
1992 war Kapoor mit einer Installation auf der 9. Documenta in Kassel berühmt geworden: „Building Decent into Limbo“. Die Besucher blickten durch ein Loch im Boden und sahen nichts. Sie sahen vielmehr das Nichts. Diese großartige Illusion der alles absorbierenden Finsternis war so gravitätisch wie ein tatsächliches Schwarzes Loch.
Viele Arbeiten in Kapoors aktueller Schau tragen dagegen etwas dick auf. Über der Installation „Symphony for a Beloved Sun“ schwebt etwa das Gemälde eines riesigen roten Kreises und soll wohl an die Entwürfe russischer Konstruktivisten wie El Lissitzky oder Kasimir Malewitsch gemahnen.
Spätpubertär oder staatsphilosophisch?
Eine durch drei Räume reichende, halb aufgeblasene Plastikplane trägt den Titel „The Death of Leviathan“. Will Kapoor hier wirklich weismachen, er beschäftige sich mit der Staatsphilosophie von Thomas Hobbes im Angesicht der Krise? Oder ist es nur Koketterie eines Künstlers, der als Blue Chip des Kunstmarkts seinen Galerien Lisson in London und Marian Goodman in New York Top-Ergebnisse liefern?
Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp gibt der Verbindung von Kapoors Körperkunst mit gesellschaftpolitischen Metaphern einen eleganten Dreh: „’The Death of Leviathan’ bietet aus der Perspektive der politischen Ikonologie keinen Ausweg, sondern sie konfrontiert den Rezipienten mit der Botschaft, sich auf die Ausweglosigkeit einzustellen. Und damit kommt die Form zu sich selbst zurück. Es ist die unermüdliche Arbeit am Material, die im Moment des Scheiterns deutlicher wird als jemals zuvor. Hierin liegt keine Versöhnung,“ schreibt Bredekamp in einem Aufsatz im die Ausstellung begleitenden Katalog, „sondern die Wiedereinsetzung des Prinzips, aus der Distanz zu argumentieren und die Kunst als ein gegenüber zu werten, das eigene, unkontrollierbare, aber gerade darum auch zu bewertende und zu begutachtende Anforderungen stellt.“
Wo Kapoors Kunst den Betrachter direkt konfrontiert, anstatt ihn überwältigen zu wollen, ist sie am stärksten. Bestes Beispiel für seine wahrnehmungsästhetischen Arbeiten ist wohl die Skulptur „Cloud Gate“, die seit 2004 im Millennium Park in Chicago aufgestellt ist und die Welt zu einem Mikrokosmos wölbt. Silbern eloxierte Stahlskulpturen wie die „Non-Objects“, die die Umgebung wie in einem Spiegelkabinett verzerren und die Betrachter unwillkürlich zu spontanen Performances verleiten knüpfen daran virtuos an, ohne einen ambitionierten Überbau formulieren zu müssen.
„Kapoor in Berlin“, 18. Mai bis 24. November 2013, Martin-Gropius-Bau, Berlin